Mai-Schätze

Wenn ich zur Zeit mit Kolleginnen und Kollegen im Gespräch bin fällt mir auf, dass einige ziemlich mitgenommen aussehen. Wer es sich traut, spricht es auch aus: Gerade ist übertrieben viel los und das spürt man deutlich.

Nach zwei Jahren Ausnahmezustand befinden wir uns im ersten Frühsommer, der „normales“ Gemeindeleben mit sich bringt. Inklusive des Nachholbedarfs aus den letzten zwei Jahren (in meinem Fall wahnsinnig viele Taufen) und der trägen Müdigkeit, die die Pandemie und ihre Sorgen bewirkt hat. Der Krieg geht weit unter die Haut und wirkt sich aus – in Gesprächskreisen, der Art der Kommunikation, in den existentiellen Fragen, die er stellt. Die Alten erinnern ihre dunkelsten Erinnerungen und finden vielleicht zum ersten Mal Worte dafür. Die Jüngeren entdecken die Sorge um ihrer Kinder noch einmal ganz neu („wenn der Krieg kommt, geh ich mit den Kindern aufs Land“/„Wo gibt es Bunker?“). Und ich hadere immer wieder mit der Ohnmacht, die das Kriegsgeschehen und seine Brutalität in mir auslöst. Wie können Menschen anderen Menschen das nur antun? Wie bete ich im Moment?

Dieses „zur Zeit gerade“ ist vielleicht naiv. Ein Freund, ebenfalls seit 7 Jahren Pfarrer, sprach letztens nahezu ärgerlich davon, dass es doch Quatsch sei, immer dieses „gerade“ zu behaupten. In unserem Dienst sei immer viel los und dieser Tatsache muss man ins Gesicht sehen. Stimmt schon. Dennoch: Ein Kriegsausbruch war bisher nicht dabei. Und dieser hyperaktive und gleichzeitig noch erschöpfte Drang in Pandemie-freie Zustände ist auch neu und wirkt sich eigenartig aus. Ich kann kaum einschätzen, wie die Leute auf Angebote der Gemeinde reagieren. Ob viele kommen oder kaum welche. Wie sicher man sich im Kirchraum fühlt und ob Masken gewünscht werden. Und was all das eigentlich bedeutet und wie es mir damit geht.

Ein paar Momente in dieser unübersichtlichen Fülle erscheinen mir allerdings recht eindeutig und ich bin froh darum.

Der Seniorenkreis im Kirchgarten, unter blühenden Apfelbäumen und wärmender Nachmittagssonne an einer langen Tafel mit weißen Tischdecken. Eine Dame, Mitte 70 vielleicht, erzählte mir vom Besuch ihrer beiden Enkeltöchter, 17 und 19 Jahre alt. Von ihren Versuchen, die beiden zu einem gemeinsamen Frühstück um neun Uhr morgens zu überzeugen (vor elf haben sie nie geschafft), von der Radtour durch den Norden der Stadt bis zum Kiessee und wie die Mädels für Fotos posierten, von ihrem liebevoll und akribisch durchdachtem Wochenplan für den Besuch, der von den beiden fröhlich über Bord geworfen wurde. Das Schönste war das Lachen dieser Frau beim Erzählen. Fast mädchenhaft und hell, mit einem überraschten, staunendem Unterton. Sie konnte sich so freuen an diesen Mädchen, das war herrlich. Die Vorstellung, wie die drei an leuchtenden Rapsfeldern vorbeiradeln rührt mich an.

Überhaupt bin ich gerade ziemlich durchlässig für (große oder auch alle) Gefühle. Gestern haben unsere Konfirmandinnen und Konfirmanden Gottesdienst gefeiert, als „Prüfung“ vor der Konfirmation an Pfingsten. Zum Einzug haben sie sich irgendeinen Worship-Gospel-Song von Band gewünscht wo „Halleluja“ und „Amen, Amen“ gesungen wird und wie die jungen Leute da vor uns den Kirchgang lang schritten und die Gemeinde sich erhob, bekam ich schon feuchte Augen. Die Komponistinnen von Worship-Musik wissen echt genau, wie man emotionale Knöpfe drücken kann, das muss man ihnen – bei aller textlichen Kritik – schon lassen. Außerdem hab ich diese Truppe wirklich lieb gewonnen.

Zwei Kinder und zwei Konfirmandinnen wurden in diesem Gottesdienst getauft. Wenn wir hier Taufe feiern, lassen wir den (ansonsten recht kargen) Taufstein bei einem Lied davor oft mit Blüten und frischem Grün schmücken. Manchmal machen das Geschwister oder die Eltern oder Patinnen und Paten. Das ist immer ein ganz schönes Bild, wenn der Stein so verziert wird. Aber gestern erschien es mir, als würde von den kleinen Kindern und den Eltern mit jeder kleinen Blüte und mit jedem Fliederzweig ein besonderer Liebesgruß an die Täuflinge gelegt werden. Dazu spielte der Organist ein melancholisch-ruhiges Stück auf dem Klavier und mich zerlegte es fast vor Rührung. So zärtlich und achtsam und liebevoll wurde noch kein Taufstein geschmückt, da bin ich mir sicher.

Diesen Moment werde ich, wie viele andere aus diesen bewegten Wochen, nicht vergessen. Hier davon zu schreiben, hält die Erinnerung wach und farbig – in warm-weißen und violetten Fliedertönen und auch ein bisschen pink.


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