Unlängst wurde ich 35 Jahre alt. Ein großartiges Alter, finde ich (bisher). Leute die behaupten, sie wollten unbedingt noch einmal 18 oder Anfang 20 oder sonstwie jünger sein, verstehe ich nicht. Ich will auf kein einziges Jahr Lebenserfahrung verzichten. Trotzdem fallen mir ein paar Dinge neuerdings auf:
Vor zwei Wochen hatte ich einen vorerst letzten (Vertretungs-)Dienst in meiner ersten Gemeinde, ab sofort ist dort ein neuer Pfarrer im Dienst. An einem herrlichen Sommertag durfte ich ein Paar trauen, Er Mitte 70, Sie Mitte 60. Es war mindestens der zweite Frühling, aber in Sachen Romantik und Verliebtheit konnten die beiden mit jedem jungen Paar mithalten. Weißes Brautkleid, rote Rosen, Rührung und Liebesschwüre – fast filmreif. Auf dem Rückweg nach Hause fuhr ich bei meinem Bestatter und seiner Frau vorbei. Kaffee und Pflaumenkuchen und ein Update über die neuesten Entwicklungen in der Gemeinde. Der neue Pfarrer kommt ganz gut an, ich freue mich für ihn und die Gemeinde und habe trotzdem etwas Herzschmerz, die erste Liebe vergisst man eben nicht. Während wir auf der Terrasse zusammen sitzen und erzählen schaut Armins Angetraute auf meine Haare und stellt fest: Deine Gemeinde lässt dir ja auch ordentlich graue Haare wachsen, was? Sind die nicht nett zu dir? – Doch, schon, aber…*Hmpft*.
Kita-Andacht am Dienstag. Ich erzähle den Kindern zu Beginn, dass ich heute etwas Tolles mitgebracht habe. Kind 1 stellt begeistert fest: Du hast uns Schuhe mitgebracht! – Ehm, nein. Die Checkerlein erkennen den Schuhkarton, aber noch wissen sie nicht, was da alles drin ist: Elia und ein Haufen Baalspropheten, lauter Stöckchen für ein Lagerfeuer, Feuer in Papierschnipselform, bunte Tücher (eines für Wasser, eines für Gott), Isebel, Wüstensand (Katzenstreu), ein Engel, trockenes Brot (seit zwei Jahren befindlich in diesem Schuhkarton), ein Krug mit Wasser, eine Höhle auf einem Berg (malerische und bastlerische Meisterleistung I), eine Feuerbrunst (malerische und bastlerische Meisterleistung II) und ein klingendes Herz. Der Schuhkarton ist eine Erzählkiste – yay! Die Kinder lauschen nun gespannt der Geschichte von Elia. Sie schauen genau, wann ich welche Figur in die Mitte lege und was mit ihr passiert. Und sie spitzen ihre Ohren als Gott sich am Ende nicht im Sturm und nicht im Erdbeben, sondern im sanften Säuseln (=das klingende Herz) zeigt. Nach der Erzählung frage ich die Kinder, wo sie gerne innerhalb der Geschichte wären. Ein Kind zieht es in die Höhle, ein anderes will bei Elia und dem sanften Säuseln sein. Einige wollen auch vom Engel mit Brot und Wasser gestärkt werden. Dürfen wir das Brot essen? – Was? NEIN, DAS… – *knurpsknurps* (Kind 3 zu meiner Linken hat es irgendwie geschafft, von dem steinharten Brot etwas abzubeißen) – Das ist doch total hart! Das kannst du doch nicht.. – Währenddessen macht es *knurpsknurps* auch von rechts (was ist nur los mit diesen Kindern?!) und ich packe die Reste hektisch weg und hoffe auf eine unauffällige Verdauung der schweren Kost. Beim Singen von „Gott hält die ganze Welt in der Hand“ mit Bewegungen fällt mir auf, dass ich echt schnell aus der Puste gerate. Gott hält die Großen (=sich lang machen) und die Kleinen (=sich klein machen) in der Hand (Hände vor dem Körper wiegen). Die Wiederholung der Strophe bringt mich an physische Grenzen. Gut, dass ich jetzt Mitglied in einem Sportverein bin.
Beim Yoga (der Sportverein!): ich liege auf dem Rücken und atme tief ein und tief aus, bzw. ich versuche es nach meinen Möglichkeiten. Noch hat die Yoga-Session (nennt man das so? Ich bin so ahnungslos) nicht begonnen, das Liegen ist zur Einstimmung gedacht. Meine Arme sind nach hinten gestreckt, tief Einatmen (es zuckt unter meinem linken Schulterblatt und ein Stück weiter unten *aua*) und Ausatmen (warum tut mein linker Arm plötzlich weh?). Muss ich etwa Liegen lernen? Das ganze Sitzen und Denken tagsüber jedenfalls hinterlässt leicht beängstigende Spuren. 1,5 Stunden ( und zwei Schwindelanfälle, es war sehr heiß und der „Berg“ sehr steil) später bin ich fertig mit der Welt, aber tatsächlich entspannter. Seitdem habe ich schon zwei Mal den Kurs verpasst (Gemeindedinge), aber morgen wieder. Bestimmt. Ganz bestimmt!
Seit fast 20 Jahren (omg) lade ich zu Taizégebeten mit ein, spiele Gitarre und singe, immer im Schneidersitz auf dem Boden. Die „Erwachsenen“, die ihre Stühle brauchen, habe ich manchmal milde belächelt. Ab sofort nehm ich mein Gebetsbänkchen und lächle ein wenig über mich selbst.
Die Konfis kommen mir manchmal so gehemmt und steif vor. Energizer (Shake! Banana, shake, shake, Banana!) können da Wunder bewirken. Oder auch ein Gefühl des Fremdschämens, weil der Pfarrerin beim Springen und Rufen zusehends die Kräfte ausgehen und sie immer leiser wird (so geschehen vorgestern, uff). Wenn ich so weiter mache, liegen bald alle mit mir auf dem Boden und müssen Atmen üben. Dann gucken die sich noch mal um!
Manchmal unterhalte ich mich mit Seniorinnen (es nutzen in meiner Welt echt nur Frauen) über ihre Rollatoren. Die Teile sind ja echt eine gute Möglichkeit mobil zu bleiben. Ja, da kann man doch auch Einkaufstüten anhängen. Ich nicke zustimmend. Und sich mal hinsetzen, wenn man nicht mehr kann – voll praktisch. Ich nicke leicht neidisch. Und stelle dann fest, dass ich ja gerade erst 35 geworden bin. Man muss es ja nu nicht übertreiben.