Es ist genau eine Woche her, dass wir Erntedank zusammen mit unserer Kita gefeiert haben. Der Altar war geschmückt mit Brot und Weintrauben. Auf den Stufen zum Altar dufteten Kräuter, Obst und und Gemüse um die Wette – ein Fest für die Sinne. Dem Charme der kleinen Kitakinder, die den Gottesdienst mit gestaltet haben, konnte sich wohl kaum jemand entziehen. Die Kirche war gefüllt mit trubelig buntem Leben und Fröhlichkeit – so ließ es sich gut und leicht danken.
Die Kinder, gingen einem schon ganz schön ans Herz, mir ging es jedenfalls so. Ich glaube, das ist gut so. Und ich glaube, das verweist noch auf etwas anderes, das neben dem Danken, genauso mit dem Erntefest zu tun hat.
Ich frage mich, werden diese Jungen und Mädchen in zehn Jahren immer noch vergnügt in der Kirche mit uns Erntedank feiern? Oder werden sie uns entrüstend und wütend vorhalten, dass wir ihre Zukunft aufs Spiel gesetzt haben? Wir wissen nicht, ob die Fridays for future – Bewegung in zehn Jahren noch von Bedeutung sein wird. Der Klimawandel und seine Folgen jedenfalls werden uns sicherlich in Atem halten. Und dass Kinder und Heranwachsende ihrem Ärger und ihrer Wut in irgendeiner Form Luft machen werden, halte ich für wahrscheinlich.
Haben Sie die Aufnahme von Greta Thunbergs Rede bei den Vereinten Nationen gesehen? How dare you – Was fällt euch ein?! Da sitzt ein 16jähriges Mädchen mit bebender Stimme und einer mühevoll beherrschten Wut und appelliert an die Weltöffentlichkeit – dieses Kind, diese Jugendliche geht mir auch ans Herz, wenn auch auf andere Weise als unsere Kitakinder. Ihr unnachgiebiger Ärger, ihre Standhaftigkeit – sie befremdet und beunruhigt und stört. Große Vergleiche werden in den Medien aufgetan. Ist sie die neue Jeanne d´Arc? Oder der neue Martin Luther, die da steht und nicht anders kann? An Greta kommt im Moment kaum jemand ungerührt vorbei – von Begeisterung und Zustimmung bis hin zu abgrundtiefem Hass reichen die Reaktionen. Letztere wirken zusätzlich beunruhigend und verstörend. In was für einer Welt leben wir eigentlich, in der 16jährige Mädchen für ihr Engagement für die Umwelt derart bedroht und beschimpft werden?
Für mich hat Greta Thunberg etwas Prophetisches an sich. Als stünde sie da und könne nicht anders. Prophetinnen und Propheten hatten zur Zeit als Könige Israel und Juda regierten, vor allem politische Funktion. Sie hielten den Machthabern und dem Volk den Spiegel vor Augen, deuteten das Geschehen und warnten vor Fehlentscheidungen. Besonders harsch kritisierten sie da, wo Unschuldige leiden und Arme ausgenutzt wurden. Der Prophet des Ersten Testaments ist immer Anwalt der Schwachen und Unterdrückten. Wie auch der Gott, der ihn oder sie dazu beauftragt und dessen Botschaften der Prophet mit Worten und seiner ganzen Existenz verkündigt. Zum Erntedanktag 2.0 in diesem Jahr/für Erwachsene/ohne Kita/im zweiten Anlauf hören wir auf Worte des Propheten Jesaja:
Brich dem Hungrigen dein Brot, und die im Elend ohne Obdach sind, führe ins Haus! Wenn du einen nackt siehst, so kleide ihn, und entzieh dich nicht deinem Fleisch und Blut! 8 Dann wird dein Licht hervorbrechen wie die Morgenröte, und deine Heilung wird schnell voranschreiten, und deine Gerechtigkeit wird vor dir hergehen, und die Herrlichkeit des HERRN wird deinen Zug beschließen. 9 Dann wirst du rufen und der HERR wird dir antworten. Wenn du schreist, wird er sagen: Siehe, hier bin ich.
Wenn du in deiner Mitte niemand unterjochst und nicht mit Fingern zeigst und nicht übel redest, 10 sondern den Hungrigen dein Herz finden lässt und den Elenden sättigst, dann wird dein Licht in der Finsternis aufgehen, und dein Dunkel wird sein wie der Mittag. 11 Und der HERR wird dich immerdar führen und dich sättigen in der Dürre und dein Gebein stärken. Und du wirst sein wie ein bewässerter Garten und wie eine Wasserquelle, der es nie an Wasser fehlt. 12 Und es soll durch dich wieder aufgebaut werden, was lange wüst gelegen hat, und du wirst wieder aufrichten, was vorzeiten gegründet ward; und du sollst heißen: »Der die Lücken zumauert und die Wege ausbessert, dass man da wohnen könne«.
Diese prophetischen Worte entstanden im 6. Jahrhundert vor Christus. Nach dem babylonischen Exil kehrt das Volk heim. Endlich kommen sie zurück in die heilige Stadt Jerusalem, zurück zum Tempel und finden ihre Heimat, nach der sie sich so lange gesehnt hatten, in Schutt und Asche. Die Heimgekehrten sehen sich nun mit schmerzlichen Fragen konfrontiert. Wie passt dieser Trümmerhaufen zusammen mit dem zugesagten Heil, auf das sie im Exil alle hingehofft hatten? Was bedeutet das für die Zukunft Jerusalems und des neu aufzubauenden Tempels?
Der Prophet Jesaja findet in den Worten unseres Predigttextes eine Deutung, eine unbequeme Deutung.
Zunächst kritisiert er mahnend die vorherrschende Fastenpraxis der Männer und Frauen und ihre Unzufriedenheit über die ausbleibende Reaktion Gottes. Eine wahrhaft gottgefällige Fastenpraxis habe weniger mit Selbstkasteiung und Selbsterniedrigung vor Gott zu tun, als mit der Aufhebung unrechtmäßiger hierarchischer Verhältnisse. Es ist nicht mit innerem und äußeren Fasten getan, das Verhalten des Volkes muss sich grundlegend ändern. Jesaja geht es um Barmherzigkeit und Nächstenliebe. Ihm geht es darum, „den Hungrigen dein Herz finden zu lassen“. Also führt Jesaja ganz konkret auf, wo Hilfe nötig ist: Brot für die Hungrigen, ein Dach für die Obdachlosen, Kleidung für Nackte.
Und dann lässt Jesaja seine Forderungen nicht in eine typisch prophetische Gerichtsansage münden, sondern in etwas Stärkeres.
Auf diesem Verhalten wird Segen ruhen, verheißt Jesaja. Ein Segen, der Leben schafft und die Herrlichkeit Gottes anschaulich werden lässt. Wie das Licht der Morgenröte, wie eine Wasserquelle, der es nie an Wasser fehlt. Wie die heilvolle Aussicht auf den Wiederaufbau des Tempels.
Nicht Angst vor Gottes Gericht soll der Antrieb sein, sondern Vertrauen auf die Gültigkeit seiner Verheißungen.
Deshalb ist es wichtig, den Text im Kontext zu betrachten. Die ethischen Forderungen des Jesajas – „wenn du einen nackt siehst, kleide ihn“ sind Antworten auf Gottes Versprechen am Ende des 57. Kapitels. Da verheißt Gott dem Volk Heilung und Trost, Frieden in der Ferne und in der Nähe. Das Heil ist schon verheißen, es geht den Taten, die die Welt verändern sollen, voran. Dieses versprochene Heil spiegelt sich dann, wenn Menschen aufeinander achtgeben, miteinander teilen, den Nächsten in den Blick nehmen.
Wenn wir teilen wird Gottes alte Verheißung von Frieden und Heil heute erlebbar. Wir können sie so in die Gegenwart ziehen. Es liegt an uns, ob sie auch für die Zukunft von Bedeutung sein soll.
Unsere Heilige Schrift spricht eine deutliche Sprache. Unser Gott wendet sich stets an die Armen, Benachteiligten und Schwachen. Es geht um Heilung, Frieden und Gerechtigkeit – für alle Menschen, für die gesamte Schöpfung.
An unseren Gott und seine befreiende Botschaft glauben heißt, dass wir nicht bei Dankbarkeit stehen bleiben können. Unser Glaube ist nicht bequem. Er hinterfragt und durchleuchtet und schleudert uns hinaus in eine Welt, die von Egoismus und Machtgier geprägt ist. Eine Welt, in der Kinder uns auf die umwälzenden Gefahren aufmerksam machen, auf die wir zusteuern. Kinder, die Angst um ihre Zukunft haben. Kinder, die in diesen Wochen und Monaten Wege in unsere Herzen suchen.
Glauben heißt auch, Gott antworten. Nicht nur mit Worten, sondern mit Taten. Wer kann denn einen Unterschied in dieser Welt machen, wenn nicht wir? Und was soll sein, wenn unsere Kinder uns eines Tages fragen?
In all dem gibt es etwas Wunderbares:
Wir handeln aus Hoffnung heraus. Hoffnung darauf, dass Gottes Verheißung auf Frieden und Heil und Gerechtigkeit uns heute und morgen auch noch gelten wird. Die Zukunft ist sein Land. Er kommt uns entgegen. Uns und den kleinen und größeren Kindern, den fröhlichen und ängstlichen und auch den wütenden Kindern.
Lasst uns leben im Licht seiner Verheißung, lasst uns Wandeln im Licht seiner Verheißung und unsere Herzen für diese Kinder öffnen. Und dann staunen, was alles möglich sein wird.
Amen
(ein gestaltetes Gebetsbänkchen im vorderen Teil der Kirche)