ploetzlichpfarrerin

  • Nach der Sommerpause ist vor der Sommerpause

    September 18th, 2023

    Der Sommer scheint in diesem Jahr nicht so richtig loslassen zu können. Ich kann das verstehen. Mein Urlaub war schön und wohltuend, aber schnell vorbei (Reisetipp: Baltikum! Dieser Himmel, dieses Licht und überhaupt). Die Sommerpause endete für mich mit fünf Tagen Konficamp – also volle Dröhnung Teenager, Frischluft, Musik, Energizer und Teamarbeit, Schlafmangel, überaktive Jungshorden (warum haben die alle jetzt ihre Haare so starr nach vorne gestylt?), rund um die Uhr ansprechbar sein, … .

    Natürlich hatte ich am Sonntag drauf Dienst (eigener Planungsfehler) und entsprechend Mühe, mich wieder auf einen klassischen Gottesdienst und den Alltag einzustellen. Eigentlich (…) hätte ich einfach schlafen sollen. Die Arbeit an der Predigt erschien mir entsprechend quälend, als müsste ich jeden Gedanke mühsam aus einem sehr trüben Gewässer ziehen – gegen Widerstände. Mein innerer Zustand scheint zum Glück nicht groß aufgefallen zu sein. Jemand fand die Predigt sogar sehr schön. Erstaunlich, aber erfreulich.

    Mittlerweile habe ich mich wieder akklimatisiert in der „normalen“ Gemeindewelt und wie meistens ist viel los: Schulanfang, der Wiederstart der Gruppen und Kreise, das Bauen (-wollen), Suche nach Geld, Vorbereitungen für Erntedank, Planen von Aktionen und Projekten, Werbung machen, niemanden und nichts vergessen, undundund. Manchmal habe ich das Gefühl, vor allem für Multitasking und erfolgreiches Jonglieren (zu) vieler Bälle zuständig zu sein (pff, von wegen Verkündigung). Die „eierlegende Wollmilchsau“ grüßt grunzend und schaut wissend, während sie mit einem süffisantem Lächeln und nur leicht angestrengt ein prachtvolles, aber hohles Ei legt. Hmpft.

    Ach, ach, es ist kompliziert. Auch bezeichnend, dass das Kürzertreten in all dem Gewusel oft erst über Krankwerden funktioniert. Bei mir war es jüngst eine Magengeschichte (ich erspare euch die Details). Bei Rahel (die mit ihren drei Kindern noch mehr um die Ohren hat) eine fiebrige Erkältung. Ich frage mich immer wieder, wie und ob dieser Beruf anders zu füllen ist. Fünf Jahre auf dieser Stelle und über acht Jahre im Pfarrdienst machen mich bei aller grundsätzlichen Zufriedenheit auch nachdenklich. Falls ich etwas Brauchbares entdecke, gebe ich Bescheid. Pfarrer:innen im Burnout sind keine Seltenheit und ich ahne, dass es jede:n von uns treffen könnte. Kein Wunder. Es gibt ja auch so viel in diesem Beruf, das so schön ist. Es gibt so viel, dass so wichtig ist. Und dann ist so viel zu tun und ich befürchte meinen Kopf zu verlieren oder meinen Atem oder meine gesunde Haltung oder meine Leute oder meine Haare und dann werden sie zu borstiger Wolle oder wolligen Borsten und die Metamorphose beginnt. Sau statt Käfer. Oooh no.

    Heute übe ich mich noch im Nichtstun. Wahrscheinlich sollte ich das öfter tun. Starting now.

  • Badeseen und Papierboote

    Juli 12th, 2023

    Es ist erstaunlich, wie viele Erinnerungen ein Mensch in sich tragen kann. Wie viel da ist, auch bei mir. Anfang August werde ich 39 Jahre alt. Gestern nachmittag erinnerte ich mich extrem deutlich an mein fünfjähriges Ich. Die Erfahrungen von damals tauchten wieder auf: So riecht es nur an dieser einen bestimmten Ecke am See, wenn man vom Weg zum Badestrand kommt (irgendwie minzig, aber auch herb). Hier an dieser Stelle im seichten Wasser sind diese Steine, da muss man aufpassen wo man hintritt. Und dort, wo ich mit meinem Onkel die Handtücher hingelegt habe, links von der großen Trauerweide, da sind wie damals diese kleinen Ameisen, die garstig werden, wenn man zu lange bleibt. Gab es früher nicht auch schon diese kleinen, durchscheinenden Kaulquappen hier? Und diese Fische mit den hellroten Schwanzflossen? Mir fiel wieder ein, wo ich mit meinem Grundschulfreund in der 4. Klasse baden gegangen bin (die Stelle mit den Ameisen). Ich sah meine Großeltern vor mir auf der anderen Seite vom Strand, auf dem kleinen Stück Gras auf einer Decke, mit Butterkeksen (immer gab es Butterkekse). Und ich spürte die kleinen Steine auf dem Weg zurück zur Straße unter den Füßen – doch, die Schuhe zieht man hier besser wieder an.

    Natürlich hatte ich meine Badesachen zuhause vergessen, die Mutter, die Geburtstag feierte, konnte aushelfen – das Wasser war weich und hatte die perfekte Temperatur, einladend und trotzdem erfrischend. Ein Besuch mit wohltuenden Urlaubsmomenten. Ansonsten ändert sich meine Heimatstadt um das Haus meiner Großeltern herum gerade rasant- die Straßen werden erneuert, es wird in die Tiefe gegraben, Grundwasser wird abgeschöpft, Kabel werden verlegt – es dauert ewig und ist fast unmöglich, mit dem Auto dorthin zu kommen. Da muss man schon ein Local sein (bin ich das eigentlich noch?). Immer noch ist es ungewohnt vor dem Haus auf der Veranda zu sitzen und meine Großmutter nicht neben mir zu haben. Ich bin froh, dass ich mich noch an ihre Stimme erinnern kann. Und ich ahne, dass sie ihre Freude gehabt hätte an all den Blumen, den glitzernden Windrädern und Lichterketten, die mein Onkel angebracht hat.

    Schon bald geht es für mich und Teile der Gemeinde für eine Woche nach Taizé. Ich bin super gespannt, ob die anderen eine gute Zeit haben werden, ob dieser Taizéfunke überspringen wird und wie das dann alles für mich sein wird. Dann beginnt auch bald die Sommerpause (Urlaub!!!!!), doch bis dahin ist noch viel zu tun (…) und zwischendurch ist es hektisch. In der Kirche haben Restaurierungsarbeiten begonnen und ich finde es wahnsinnig spannend, was sich da unter diversen Schichten Farbe und Putz verbirgt. Ich lerne neue Wörter (“Begleitstreifen!”) und staune, was da alles geblieben ist, wenn auch verborgen. Und dass geübte Hände es wieder sichtbar machen können: Weinreben, Kreuze, Verzierungen. Vielleicht finden sich Möglichkeiten, manches davon zu zeigen. Das wäre schön.

    In der Kita stand letzte Woche ein Abschied an. Die Großen kommen nach dem Sommer in die Schule, ich war das letzte Mal offiziell zur Andacht bei ihnen. Ich mag diese Truppe. Bis zum Schluss wollten sie das Schaf-Spiel spielen (es ist ja auch ein tolles Spiel). Jetzt konnte ich sogar ihre Namen! Zum Schluss bastelten wir gemeinsam Segenshüte aus Papier (das hatte ich extra gut geübt vorher) und dabei fiel den Kleinen wieder ein, dass ich ja einmal Mühe hatte mit dem Basteln von Papierbooten. Das hatten die Kinder nicht vergessen. In der Zwischenzeit hatten sie es selbst gelernt – aber wie! Eine fing dann an, für mich ein Boot zu falten und mit regenbogenbunten Herzen zu bemalen. Am Ende hatte ich eine richtige Flotte zusammen, große (“Da kannst du auch mit deinen Playmobil-Figuren drauf spielen”) und kleine Boote und auch einen Segenshut. Da steht vorne “Segen” drauf, in großen Buchstaben, das S ist spiegelverkehrt. Und gleichzeitig genau richtig. Es wäre herrlich wenn die Kleinen diese Erinnerung behalten würden: Wie sie ihre Pfarrerin an einem Mittwochmorgen sehr glücklich gemacht haben.

  • Sommer-Pause?

    Juni 5th, 2023

    Der ehemalige Vikar ruft an und erzählt wie es ihm geht. Er klingt müde und auch etwas genervt. Ich dachte, im Sommer wäre weniger los! Das sagen doch immer alle! Ich weise ihn darauf hin, dass sich diese Ansage ziemlich sicher allein auf die Sommerferien bezieht und jetzt überall viel anliegt: Sommerfeste, Konzerte, Busausflüge, Konfirmationen, Taufen, Hochzeiten, Kita-Feste…

    Der frisch gebackene Pfarrer und ich haben bis zu diesem Zeitpunkt schon seit Tagen versucht, uns zu erreichen. Wir mögen uns, eine richtige Freundschaft ist entstanden. Ich ahne, wie es ihm geht. Gleichzeitig bin ich selbst recht müde und erschöpft, aber auch aus schönen Gründen.

    Am Pfingstmontag bin ich Patin geworden von einem kleinen Mädchen. Ein großes Geschenk in vielerlei Hinsicht. Der Gottesdienst zur Taufe war berührend und schwungvoll, in einer großen, schön sanierten Kirche (Licht! Tontechnik! Eine Kinderecke! Ein installierter Beamer in der perfekten Größe! Menno. ). Die Kleine wurde von ihrem Großvater getauft – schön war das, liebevoll und vertraut und stimmig. Ihre Eltern sind auch im Pfarrdienst, wir haben teilweise gemeinsame Freund:innen aus Studienzeiten, es war ein bisschen wie Klassentreffen, aber entspannter.

    Sogar so entspannt, dass ich erst abends beim Einsteigen in den Zug bemerkte, wie heiß und rot mein Gesicht im Laufe des Nachmittags geworden war. Gartenparty bei 20 Grad, Hängematte, Hüpfburg (wie anstrengend das schon nach 5 Minuten wird!) kühle Getränke, gute Unterhaltungen, Sonne unterschätzt, zack! – fieser Sonnenbrand für drei Tage und große Matschigkeit. Ich hatte das Gefühl, im Dunkeln leuchten zu können.

    Ende April schon durfte ich bei einer anderen Taufe im Freundeskreis zu Gast sein, auch das war eine wohltuende Unterbrechung im Gemeindetrubel. Wie ich es genieße, im Gottesdienst einfach mal nix zu machen! Ein bisschen hören, singen, beten, ein paar Bilder machen (diskret, versteht sich), mit dem Täufling flirten. Herrlich. Mit der Mutter der Kleinen bin ich seit dem 2. Semester eng befreundet, ich kenne ihre Eltern, ihre Schwester, ihre Familie und sie kennen mich. Vom Gemeindepraktikum. Vom Besuch kurz nach Weihnachten. Von irgendwelchen Umzügen und Familienfeiern. Ihre Mutter sagt zur Begrüßung: Du bist ja grau geworden! Aber steht dir. Du lässt das so, oder? Dass meine Freundin und ihr Mann letztes Jahr Eltern geworden freut mich aus tiefstem Herzen. Dass ihr Töchterchen und ich uns gut verstehen, ebenso.

    Wenn zwischendurch Zeit ist staune ich, wie viel Leben wir miteinander teilen. Wie viele Familiengeschichten, wie viel Freude und Trauer und Sorge und Dankbarkeit. Wie viel müde Telefonate und gemeinsames, genervtes Aufregen. Wieviel Vertrauen. Ich bin froh, dass es so ist. Und dass diese (und auch andere) Beziehungen wachsen und halten, dass sie tragen. Ohne sie wäre ich nicht hier, nicht so. Nächstes Jahr werde ich 40. Wahrscheinlich werde ich groß bei uns im Kirchgarten feiern. Das wird ein Fest.

  • Gut gemeint, hart genervt

    April 4th, 2023

    Seit Wochen: irgendwas Undefinierbares zwischen viel Winter und ein kleines bisschen Frühling. Es blüht und duftet draußen nach Kräften, fast ein wenig trotzig kommt mir das vor. Eiskalter Wind und Nieselregen? Pff, wir geben trotzdem alles. Dunkelfinstere Nacht mit Schneeluft? Whatever, Frühling ist, wenn man dennoch blüht.

    Seit Wochen: bei mir irgendwas zwischen viel Erkältung mit ewigen Husten und gerade so genesen sein. Das ist gerade wohl überall so und bei Menschen mit Kindern nochmal viel krasser. Tatsächlich beunruhigend erscheint mir, dass ich seit Dezember keine Beisetzung mehr hatte. Ich ahne, dass es nur eine Phase ist, aber geheuer ist mir die Sache nicht. Die Tage vor Ostern sind deshalb überraschend „ruhig“. Ich hab sogar Zeit für Seelsorgebesuche, was ich echt genieße. Und es ist toll wenn Raum ist, über die Texte und Themen rund um Tod und Auferstehung ohne Schnappatmung nachzudenken.

    Vielleicht habe ich im Moment wirklich zu viel Zeit, jedenfalls beschäftigt mich außerdem ein Phänomen, das seit ein paar Wochen verstärkt auftritt. Nach Gremiensitzungen, zwischen Tür und Angel nach dem wuseligen Palmsonntagsgottesdienst, vor dem Seniorenkreis. Menschen fragen mich mit besorgter Miene, ob denn alles bei mir in Ordnung sei und ob es mir gut ginge. Alles gut bei dir? Du wirkst so angespannt.

    Und meine Reaktion auf diese Fragen ärgert mich fast genauso sehr wie die schrägen Fragen selbst. Sofort habe ich nämlich das Bedürfnis, alle Sorge um mich beim Gegenüber fortzuwischen Nee, mir gehts gut. Alles ok. Echt.

    Egal, ob ich gerade eine stundenlange und grauenvolle Sitzung an einem Sonnabend (viel, viel Menschenhasserstimmung) hinter mir habe, der Gottesdienst zu Palmsonntag großartig, aber auch total anstrengend war (u.a. durch ein spontan erwachtes, unregelmäßiges, durchdringendes Piepsen in unserer Tonanlage – wtf?) und auch egal, wenn die Nacht vorm Seniorenkreis zu kurz war, weil Husten und Erkältung und bäh. Ich will trotzdem so wirken, als wäre ich nicht auch mal müde, nicht auch mal angespannt oder kaputt. Superpfarrerin. Immer fresh, immer souverän. Soweit kommt es noch, dass Leute nach meinem Befinden fragen!! Pff. Ich blühe trotzdem.

    Gleichzeitig sind diese Fragen zwar wohl irgendwie gut gemeint, aber halt auch komisch übergriffig. Was denken denn die Leute, wie ich in so einer Situation darauf reagiere? Dass ich ihnen mein Herz ausschütte? Dass ich mal so richtig ablästere über z.B. meine unfähige Bürokraft (Stoff für Stunden und viel Schnaps)? Tränen? Eine Einladung in die Sauna?

    Und außerdem beschäftigt mich sofort auch die Frage, ob ein Mann wohl mit denselben Fragen konfrontiert wird. Ich vermute, nein. Da gelten andere Maßstäbe. Auch das nervt hart.

    Morgen kreisen meine Gedanken hoffentlich wieder um Erbaulicheres. Predigttext für Ostersonntag ist von Paulus, der alle Zeugen der Auferstehung aufzählt. Allerdings – keine einzige Frau dabei. Paulus – wtf? Diese Frage würde ich gerne mal in persona loswerden. Und nachschieben: Du siehst so blass aus, alles gut bei dir?

  • Kinder, Kinder…

    Februar 27th, 2023

    Einmal im Monat halte ich an einem Mittwochmorgen Andacht in der Kita. Meistens ist das ein großes Vergnügen. Wir singen Lieder und tanzen, ich erzähle eine Geschichte, die Kinder helfen dabei mit und am Ende wird noch gespielt. Wenn ich Glück hab, bekomme ich noch ein bisschen Obst oder Gemüse ab und manchmal wird mir ein Kaffee gebracht.

    Richtig gewohnte Routine hat sich bei mir bisher nicht eingestellt. Jeden Dienstag vor einer solchen Kitaandacht frage ich mich bange: Was mache ich mit den Kleinen? Was könnte funktionieren? Am Besten klappt es wenn ich mich vorher mit Rahel bespreche, die auf wundersame Weise immer weiß was mit Kindern gut läuft. Letzte Woche war zeitlich allerdings so dicht, dass ich von Rahels Expertise nicht profitieren konnte.

    Die Andacht beginnt um halb zehn, um halb neun desselben Tages war ich mir immer noch nicht sicher, welches Thema ich machen wollte. Etwas mit Passion? Oder doch Elia, zu dem ich immerhin schon eine Erzählkiste mit Legematerial fertig hatte? Oder eine Heilungsgeschichte? Schließlich ließ ich mich musikalisch leiten und nahm die Jonageschichte, zu der ich schon vor Jahren ein wirklich witziges Lied von einem Kollegen zugesteckt bekommen hatte (Ausgerechnet Ninive, wer will da schon hin?) . Vor meinem inneren Auge sah ich die Kinder und mich fröhlich singen und andächtig der Geschichte lauschen.

    Es ist immer gut, ein bisschen Anschauungsmaterial mitzunehmen. Ich fand zuhause einen Kompass und ein Fernglas. Den Wal druckte ich als Bild aus. Und das Boot? In 10 Minuten müsste ich loslaufen, um pünktlich in der Kita anzukommen. Ich entschied mich für so ein gefaltetes Papierschiff. Aber wie ging das nochmal? Trotz Hektik und meiner ausgeprägten Bastel-Abneigung gelang es mir mit Hilfe der Suchmaschine ein etwas schiefes Exemplar zu falten. Als Boot würde das schon durchgehen.

    In der Kita wartete man schon auf mich, als ich etwas außer Atem dort ankam. Die Kinder freuten sich und ich versuchte mich, an die Namen zu erinnern. Ein paar waren beim Kinderfasching in der Gemeinde gewesen, das wusste ich noch. Links von mir mit den blonden Locken, das war Johannes. Da vorne in der Mitte mit den halblangen braunen Haaren und dem frechen Blick, das war Lara. Und die anderen sieben? Keinen Plan… Dieses Mal war ein Erzieher in Ausbildung als Verstärkung dabei. Anscheinend hatte er keine Lust auf Andacht oder war einfach schlecht drauf, jedenfalls machte er die schönen Bewegungen zu den Liedern im Sitzkreis nicht mit (Soooo groß, was kann größer sein? Sooo weit, was kann weiter sein? Soooo tief…Mit ausladenden Armbewegungen). Er wurde auch nicht aktiv, als ein Junge aus der Gruppe hinter mir die Streichhölzer nahm und sie anzündete.

    Schon während ich die Jonageschichte erzählte baten die Kinder darum, wieder das Spiel mit den Schafen spielen zu dürfen. Das macht auch wirklich Spaß: Ein:e aus der Gruppe macht „mäh“ und eine:r mimt Schafhüter:in und muss das Kind am „mäh“ namentlich erraten. Während ich die Kinder auf später vertröstete und weiter die Geschichte erzählte, ließ ich Kompass und Fernglas rumgehen, was dazu führte, dass alle Kinder gleichzeitig das Fernglas wollten. Keines wollte den Kompass, dabei ist der eigentlich viel schöner (dachte ich jedenfalls). Unvorsichtiger Weise kündigte ich an, dass wir im Anschluss vielleicht auch noch gemeinsam Papierboote würden basteln können. Das Mädchen neben mir (auch etwas mit L. aber nicht Lara) schmiegte sich an mich und meinte, dass sie so gerne auch mal das Fernglas haben würde. Was nur war an diesem Fernglas so toll? Das hatte ich völlig falsch eingeschätzt.

    Ich forderte zum Teilen auf. Klappte so semi. Der Erzieher starrte ins Leere. Ich ging über zum Ninive-Song, aber keine:r achtete so richtig darauf, das Fernglas war einfach spannender. Ein Mädchen wünschte sich das andere Lied, das wir immer am Schluss singen. Mir tat es schon etwas leid um den tollen Ninive-Song und auch um Jona. Der Erzieher ging nun mit dem eben noch kuschelnden und jetzt scheinbar weinenden Mädchen vor die Tür. Sah er mich tatsächlich vorwurfsvoll an? Warum?? Gleichzeitig schnappte sich ein Junge das Papierboot und begann in Kreisen um die Gruppe herum zu laufen. Irgendwann wurde das Mädchen wieder reingebracht, der Junge rausgeholt (vorher gab er mir äußerst widerwillig das Boot zurück) und die Geschichte war zu Ende.

    Beim Schafspiel hatten sie wieder Freude und ich staunte, wie gut sie einander erkannten. Als ich Hirtin sein sollte, fiel mir das viel schwer, auch weil mir immer noch nicht alle Namen wieder präsent waren. Mäh! – Lara? Mäh! – Johannes? Mäh!Mäh! – Nicht vielleicht doch Lara oder Johannes? Wir spielten lange und vergnügt, dann begann ich meine Sachen zusammen zu packen und nach dem Obstteller zu schielen, einen Kaffee hätte ich eigentlich auch gut gebrauchten können.

    Wie aus dem Hinterhalt fragte mich (wahrscheinlich) Lara, ob wir denn jetzt noch Papierboote basteln würden. Mit einem Blick auf die Uhr stimmte ich zu, ein schnelles Boot war drin (hatte ich heut früh ja auch hinbekommen). Ich setzte mich mit den Bastelwilligen an einen Tisch und legte los. Was ich ebenfalls nicht bedacht habe: Dass Kitakinder schon mit dem Kniffen eines Blattes in der Mitte Schwierigkeiten haben können und basteln ewig lange dauert. Sara – kannst du mir helfen? Sara – wie geht das? Ich weiß nicht, wie ich das falten soll.. Ist das richtig so? Immer mehr Kinder kamen jetzt dazu und wollten auch basteln. Oh je. Auch ein weiterer Erzieher setzte sich an den Tisch und nahm sich ein Blatt Papier. Aber weder diese neue Typ, noch der schlecht Gelaunte wusste, wie man Papierboote faltet. Ist das nicht Grundwissen für Menschen, die mit Kindern zu tun haben? Ich zückte das Handy, oha, so spät war es mittlerweile schon. Eigentlich wollte ich jetzt schon draußen sein. Die Boote der Kleinen befanden sich noch im Hut-Stadium. Die aufgerufene Anleitung der Suchmaschine half mir dieses Mal nicht. Zu viel Chaos. Zu viel Hektik. Zu viel Saraaa! Ich musste mich schließlich geschlagen geben. Zwei Papierboote würden mir an diesem Tag definitiv nicht gelingen.

    In der Gemeinde weiß man, wie ich zum Basteln stehe (= Sara hasst basteln). In der Kita weiß man es jetzt auch. Als ich mich kurz darauf von den weiter bemüht kniffenden und faltenden Kindern verabschiedete kündigte ich an, das nächste Mal Papierboote bis zum Ende mit ihnen zu basteln. Seufz. Das engt die Auswahl an Geschichten dann immerhin schonmal ein. Vielleicht Sturmstillung? Bestimmt lässt sich da zur Not auch noch was mit Schafen einbauen. Oder Ferngläsern. Mäh.

  • Familienbande

    Januar 15th, 2023

    Das letzte Drittel 2022 hängt mir noch ganz schön in den Knochen. Zwei Todesfälle in der eigenen Familie, eine (immerhin freundlich verlaufene) Trennung und dazu allerhand Trubel in der Gemeinde auf diversen Ebenen und intensive Vorbereitungen auf eine Weiterbildung. Beziehungsmäßig brachte der Herbst, jedenfalls in meiner Welt, allerhand Veränderung. Das Leben macht nicht Halt vor Menschen im Pfarrdienst. Irgendwie geht das dann auch: eigene Trauer und Beisetzungen anderer Menschen, emotionale Verwirrung und lange Sitzungen im Presbyterium, viele innere Fragezeichen und dennoch und mit ihnen predigen.

    Die Weihnachtszeit war intensiv und schön, auch der Jahreswechsel mit der Verabschiedung unseres Vikars. Der ist jetzt plötzlich Pfarrer und ich freue mich, am Telefon von seinen ersten Schritten im Dienst zu erfahren und ein bisschen mitzufiebern. Auch ihn hat es für die erste Stelle aufs Land verschlagen und er hat jetzt das „Vergnügen“ der aufregenden, tausend ersten Male. Es rührt mich merkwürdig an, dieses Loslassen und Schauen, wie es ihm da in der Ferne geht.

    Kurz nach Neujahr setzte mich ein garstiger Infekt außer Gefecht. Die ersten Schritte in 2023 waren also etwas wacklig. Langsam finde ich aber Gefallen an diesem Januar, auch weil ich wieder Dinge jenseits von Knäckebrot und Tee zu mir nehmen kann und sogar richtig viel davon. Und weil ein Urlaub Anfang Februar in Sicht ist. Und weil sich immer wieder kleine und größere Kraftwerk-Momente ergeben, die gut tun. Leben macht zum Glück nicht Halt vor Menschen im Pfarrdienst.

    Der letzte Donnerstag war zunächst ein schrecklicher Tag. Er begann mit großem Widerwillen, überhaupt aufzustehen und zu arbeiten (=Herbstfolgen und Urlaubs-Überreife). Nach einem Seelsorgegespräch erhielt ich auf meinem Telefon eine Absage für eine Verabredung, auf die ich mich eigentlich sehr gefreut hatte. Bummer. Nachmittags entdeckte ich auf dem Weg zum Blumenladen, dass Ross einen Platten hinten rechts hatte. Ich wollte gerade nach Hause aufbrechen, mein Onkel Hajo feierte runden Geburtstag. Statt zügig mit schöner Musik durch die Landschaft zu düsen musste ich mich nun um die Reparatur kümmern und mit den Öffentlichen fahren, was doppelt so lange dauert. Noch dazu hatte ich einen ausgemachten Menschenhasser-Tag. Natürlich gab es Verspätungen. Es regnete. Meine Laune war so sehr im Keller, dass ich mich selbst kaum ertragen konnte.

    In dieser Stimmung kam ich am frühen Abend zuhause an und wurde unverhofft und beglückend von wärmenden Familienbanden umfangen. Meine Mutter holte mich vom Bus ab, fast wie früher als ich ich noch klein war. Sie kündigte an, dass Hajo eine Überraschung für mich habe. Zusammen gingen wir den kurzen Weg zum Haus, in dem meine Großeltern gelebt hatten und wo nun mein Onkel alleine wohnt. Es war draußen schon dunkel, aber der Garten war von lauter kleinen Kerzenlichtern erhellt, Musik spielte, die ersten Freundinnen und Freunde von ihm waren da. Ein schöner Anblick, absolut einladend und gemütlich.

    Ich fand meinen Onkel an der Feuerschale, gratulierte ihm und fühlte mich schon ein ganzes Stück besser. Er freute sich merklich, dass ich da war und ich freute mich auch. Hast du Hunger? Komm, ich mach dir was warm. Ich hab eine Überraschung für dich. Hab gestern was gekocht für dich, wirst gleich sehen. Nudeln wie von Oma.

    Es war der erste Geburtstag, seit meine Großmutter im Herbst gestorben ist. Obwohl sie nicht da war, war sie präsent. In den Nudeln mit Tomatensoße und der Grießklößchensuppe, die Hajo gekocht hatte. In den Erinnerungen an sie, die ich mit Hajos Freunden am Feuer und in der Remise teilte. In der kleinen Traurigkeit, die mich überfiel wenn ich auf das Haus schaute und mir bewusst wurde, dass sie nicht heraus getappt kommen würde, um sich auch eine Bratwurst zu holen.

    Als Teenagerin hatte mich Hajo öfter zu Konzerten und kleineren Festivals mitgenommen. Dabei lernte ich auch seine Leute kennen: langhaarige, freundliche Hippies mit dem Drang, raumgreifend in der ersten Reihe zu tanzen und Eierlikör in abstrusen Mischungen zu trinken. Hajo und ich saßen damals stundenlang bei Neil Young, Rio Reiser, Pink Floyd und the Police zusammen, Hajo rauchte, suchte nach Kassetten oder CDs für die nächste Lerneinheit und ich lauschte.

    Über 20 Jahre später begegnete ich seinen Hippie-Freunden nun wieder und war ganz verzaubert. Ich hörte neue Geschichten über meinen Onkel, auch über meine Großmutter. Ich trank Eierlikör (ohne Mischung) und Whiskey, teilte Brot und Zeit mit Hajos bester Freundin, die ich bisher nur aus seinen Erzählungen kannte. Hajo war glücklicher Gastgeber. Und ich fragte mich, warum ich so lange nicht bei diesen Festen dabei gewesen war. Tolle Leute. Und eben auch Heimat und Familie irgendwie.

    Und irgendwann fand ich mich am Feuer mit Hajos Freund Ralf aus Armeezeiten wieder. Ralf erzählte mir, dass seine Großmutter ihn früher immer mit auf Beerdigungen genommen habe und dass er das als Kind richtig toll fand. Er habe auch schon konkrete Vorbereitungen getroffen für den Fall, dass er sterben würde. Und dann schaute mich Ralf an, mit lachenden Augen und sprach: Weißt du Sara, lass mich dir mal was sagen. Ich bin jetzt fast 60 und habe viel erlebt. Und eine Sache habe ich gelernt, und die will ich dir erzählen. Weil sie so gut ist. Und ich davon absolut überzeugt bin. Das ist einfach meine Lebenserfahrung: Alles sortiert sich irgendwann so hin, wie es sein muss. Und dann ist es gut. Richtig gut. Das wird für Hajo so sein. Und für dich auch. Vertrau mir. Und ich? Ich konnte ihm das glauben.

  • Aus gegebenen Anlass: Als ich Weihnachten feierte, dass kein Kind geboren wurde

    Dezember 25th, 2022

    Heiligabend vor fünf Jahren. Damals war ich noch auf meiner Stelle im Probedienst. Vier Gottesdienste  in verschiedenen Dörfern lagen an, manche mit einem Krippenspiel, andere mit einem kleinen Flötenchor oder in einer Kirche, die nur von Kerzenschein erleuchtet wurde. Ein ziemlicher Kraftakt, aufregend, aber auch schön. 

    Bei einer Mitarbeiterin und deren Familie war ich nach den ersten beiden Gottesdiensten zum Abendessen eingeladen, was ich dankbar annahm. Ein reich gedeckter Tisch, Kartoffelsalat, Würstchen, Tee und Brote, Wein. Die Stärkung war dringend nötig. Das Essen schmeckte gut. Die Gesellschaft war angenehm. Wohlige Wärme und Schläfrigkeit breitete sich in mir aus. Ich musste mich daran erinnern, nicht zu sehr zu entspannen, zwei Gottesdienste würden schließlich noch folgen. Als ich das Auto für die letzte Fahrt an diesem Abend mit meinen Sachen packte, kam eine Nachricht von Rahel auf mein Telefon. Bin auf dem Weg ins Krankenhaus. Das Kind kommt.

    Doch das konnte nicht sein. Es war viel zu früh, der Geburtstermin war eigentlich für Mitte März berechnet. Noch war das Kleine nicht lebensfähig. Die gesamte Schwangerschaft war schon schwierig gewesen, immer wieder gab es Momente in denen wir um das Leben des Kindes bangten. Der werdenden Mutter war zuletzt Ruhe verordnet worden, Beschäftigungsverbot, viel Liegen. Nun hatten an Heiligabend doch die Wehen eingesetzt. Ich konnte nur ahnen, in welch großer Sorge sich Rahel und ihr Mann befanden. Und mir geschah es, dass ich an jenem Heiligabend die Geburt des einen Kindes feierte und mit jeder Faser meines Daseins dafür betete, dass das andere Kind nicht geboren werden würde. Jedenfalls noch nicht. Bitte noch nicht. Während des vorletzten Gottesdienstes kamen neue Nachrichten. Wurde in ein anderes Krankenhaus verlegt.  Es braucht Spezialisten für Frühgeburten.  In so einem Zustand noch ein Transport? Ob das gut gehen würde? Und kurz vor der Christnacht schließlich:

    Habe Wehenhemmer bekommen. Und ein Mittel, das bewirkt, dass die Lunge des Babys sich schneller entwickelt. Wenn das Kind nicht in den nächsten 48 Stunden kommt, kann es vielleicht überleben. Bete für uns.  Wie viel Spannung und Aufregung konnte ein Mensch ertragen? Ich war voller Sorge, voller Unruhe und wie elektrisiert. Ein Gefühl von klammer Ohnmacht machte sich breit. Ich war so weit weg, konnte nichts tun, aber wollte so gerne. 

    Die Christnacht klang anders als in den Jahren zuvor, ernster, besorgter. Ein Kind wurde geboren und auch sein Leben war gefährdet, von Anfang an. Ich verstand mehr von der Sorge und schließlich auch mehr von der Freude. 

    An Weihnachten vor fünf Jahren wurde kein Kind geboren. Auch nicht in den 48 Stunden danach. Am 30. Januar erblickte ein sehr kleines Mädchen das Licht der Welt, immer noch  6 Wochen zu früh, aber kräftig genug um zu überleben. 

    Bald feiern wir also Kindergeburtstag. Und an Weihnachten feiern wir jedes Jahr, dass die Kleine nicht geboren wurde. 

  • Die Lobby des Tannenbäumchens

    November 28th, 2022

    Und schwupp, schon wieder Advent. Über der Eingangstür der Kirche leuchtet der gelbe Herrnhuter Stern. In der Kirche wurde der große Adventskranz an der Decke angebracht. Das Tannenbäumchen auf dem Platz neben der Kirche trägt seit gestern (Sonntag, 1. Advent) auch seine obligatorische Lichterkette.

    Natürlich haben die Tannenbäumchen – und Lichterkettenverantwortlichen des hiesigen Ortsvereins niemanden von der Kirchengemeinde informiert, wann sie die Erleuchtung vornehmen wollten. Wozu auch? Ist die Pfarrerin nicht Tag und Nacht betend in der (eiskalten, unsanierten) Kirche? Purer Zufall, dass unser Organist Robert um 14 Uhr nachmittags noch für ein Konzert übte und tatsächlich in der Kirche war. Und dass Robert mich am Telefon erwischte, kurz vorm mittäglichen satt-zufriedenen Wegdämmern auf der Couch. Wenig zufrieden stapfte ich also zurück zur Kirche, suchte mit nach Kabeln, Matten und der Zeitschaltuhr, was man nicht alles macht als Theologin. Der Baum sieht schon ein wenig mitgenommen aus, mit trockenen, braun-grauen Stellen auf der einen Seite. Unklar ob die Lichterkette vorteilhaft ist für seine Optik.

    Letztes Jahr Ende November wurde der Baum mit großem Tamtam des Ortsvereins eingepflanzt, die Trockenheit im Sommer dieses Jahres hat ihm (wie zu erwarten war) ganz schön zugesetzt. Im Ortsverein hat das Bäumchen viele begeisterte Anhänger:innen, eine richtige Lobby (sie haben ihn auch besorgt und gepflanzt und nach Kräften gegossen). Der Vorsitzende des Vereins zeigte mir gestern dann auch stolz das frische Grün an seinen Zweigen (vorhanden) und wies darauf hin, wie sehr der Baum schon gewachsen sei (meh, vielleicht). Er prognostizierte eine große Zukunft. Wir werden sehen.

    Unsere Gemeinde hat neuerdings einen Instagram-Kanal. Das spontane Einrichten (es war eigentlich schon lange geplant) während des gemeinsamen Adventskranz-Bastelns und die ersten Erfahrungen damit waren von unangenehmer Selbsterkenntnis begleitet. 1. Es sind 10 Jahre (!!!) vergangen, seit ich meinen privaten Instagram Account erstellt habe 2. Ich brauche Hilfe.

    Zwischen Heißklebepistolen, Tannengrün, Deko-Zeug und Basteldraht posiert Maria, eine ehemalige Konfirmandin, mit ihrem hübschen Adventskranz. Sieht toll aus. Das Basteln hat sie eindeutig besser raus als ich. Social media und Selbstdarstellung auch. Maria hat Mitleid mir mir und erklärt mir, was Hashtags sind. Ich weiß, was Hashtags sind. Aber ich habe bei Insta und Facebook den Anschluss verloren, als plötzlich alles voller Selfies und Kurzvideos war. Mir ist nicht klar, was Stories sind und wie ich Reels fabriziere. Plötzlich spüre ich sehr deutlich die 10 Jahre. Maria und einige andere mit Öffentlichkeitsarbeit betraute Leute greifen unterstützend ein. Ein Video zu Werbezwecken entsteht, ich lache fröhlich in die Kamera. Noch.

    Später am Abend klage ich Rahel am Telefon mein Leid. Ich wolle Bilder der Gemeinde auf meinem privaten Account teilen, und versuche es schon stundenlang, aber es klappe einfach nicht. Rahel tröstet mich und sagt, dass ihr die Bilder angezeigt würden und es wohl doch funktioniere. Meine Erleichterung darüber dauert nur so lange bis mir ein Kollege (unangenehm technikaffin) schreibt, dass ich acht (!) Mal dieselbe Story gepostet habe. Mir ist unklar, wie das passieren konnte. Mir ist ebenso unklar, wie und ob das wieder rückgängig zu machen ist. Und nach wie vor beschäftigt mich die große, unbeantwortet Frage: Wtf ist eine Story??

    Wenn ich diese Woche richtig krass drauf bin mache ich ein Kurzvideo bei Insta. Vom Tannenbäumchen neben der Kirche. Mit Filter, wo Schnee fällt oder Glitzerregen oder so. Mehr content. Mehr Blingbling. Auf dass er Frucht bringe – 8fach, 10fach, 100fach – wir werden sehen.

  • Ewigkeit und Jugend

    November 14th, 2022

    Am Endes des Kirchenjahres fügt sich gerade so manches zusammen. Die letzten gelben Blätter fallen von den Bäumen, ein wenig blüht es noch in den Blumenbeeten an Kirche und Gemeindehaus. Letzten Montag wurde meine Großmutter in meiner Heimatstadt beigesetzt, früh am Morgen. Die Novembersonne leuchtete uns zum Grab, es war fast surreal hell. Ein guter, stimmiger, trauriger Abschied. Dass auch die Nachbarn und Freunde weinten tröstete mich. Geteilte Trauer. Ungeahnt wohltuend.

    Der Herbst dieses Jahr scheint besonders bunt und hell zu sein. Die Felder und Parks haben sich einem richtigen Farb- und Lichtrausch hingegeben. Vielleicht ein letztes Aufbäumen gegen den grauen Winter am Stadtrand? Oder doch eher ein erleichtertes „endlich geschafft“ am Ende eines langes Sommers?

    Die letzten Wochen waren aufreibend, zuhause und auch privat. Pfarrdienst ist tricky wenn man selbst gerade nicht gut aufgestellt ist und schneller als üblich aus dem Gleichgewicht gerät. Die Frauen, zu deren Natur das Lästern und Schimpfen (DAS war wirklich schon immer so) gehört, werden dann größer und lauter als sie eigentlich sind. Der ernste Blick des Vikars spricht fatale Bände. Die Bürokraft beweist in noch kürzeren zeitlichen Abständen, dass Kontakt mit Menschen wirklich nicht ihre Stärke ist und Lernfähigkeit ebenso wenig. Das Presbyterium duckt sich besonders ärgerlich vor seinen Aufgaben und Verantwortungen. „Die Gemeinde“ beschwert sich einheitlich und mit viel Ausdauer über die Arbeit des Diakons, aber natürlich nur bei mir. Und ich hätte eigentlich Urlaub machen sollen statt mich mit all dem rumzuschlagen. Menschen. Bedürfnisse. Es ist kompliziert.

    Lichtmomente ergeben sich auch jetzt und sie leuchten besonders. Das Gebet von Frère Roger, das der Vikar während einer Taizéandacht wählt, überflutender Trost. Seit Wochen bin ich endlich wieder bei Stimme an diesem Abend und kann singen, andere singen mit, sogar vierstimmig und oh, ist das herrlich und schön – das hatten wir hier noch nie. Hinterher sitzen wir im Gemeindesaal zusammen und erzählen, spielen, lachen bis die Tränen kommen. Ich bin erschöpft, heiser und höre schnupfenbedingt nur die Hälfte, aber es ist ein Fest.

    Die Konfis rühren mich besonders an in diesem Jahr. Sie sind zu dritt, kannten sich vor Beginn der Konfizeit nicht und gehen total gut um mit den Themen und sich selbst und den anderen. Sie haben richtig Bock was zu machen. Jetzt am Sonntag haben sie die Gedenken für zwei Verstorbene übernommen und waren dabei ganz ernst und echt. Das ging mir richtig durchs Herz. Am Sonnabend haben sie Ewigkeitsboxen gestaltet. Drei völlig verschiedene Vorstellungen davon, wie es nach dem Tod weitergeht. Weiß-silberne Rampen auf Wolken, klingende Bewegungen, Weite. / Ein Weg auf dunkler Erde an dessen Ende eine weitere Tür steht und ein Engel wartet darin. Ein herrlicher Kronleuchter aus Schellen macht es hell./ Es gibt Dunkles und Helles. Leben wächst weiter. Alle unsere Namen stehen am Nachthimmel und bilden den Großen Wagen. Zusammen in der Ewigkeit, ein Zeichen für alle, die nach oben sehen./

  • Die Aussicht

    Oktober 17th, 2022

    Auf meinem Lieblingsbild von ihr steht sie auf einem Felsvorsprung, ein Fernglas an die Augen haltend. Eine große, schlanke Gestalt. Ihr Rock weht leicht im Wind. Rechts von ihr der Pavillon, darin jemand, der in die gleiche Richtung schaut. Vielleicht mein Großvater. Vielleicht jemand anders. Die Aussicht, die beide betrachten, verrät das alte Foto nicht. Ich weiß nicht, was sie in dem Moment gesehen hat. Ob da ein großer Wald war oder zerklüftete Felsen oder ein See, vielleicht auch eine Stadt? Die Aufnahme ist schwarz-weiß. Sie erzählt nichts von den Farben, die sie umgeben haben. War es Sommer? Oder ein ungreifbar schöner Herbst, wie in diesem Jahr?

    Als ich am Sonnabend mit Ross zu meiner Familie fuhr präsentierte sich die heimische Landschaft wie aus dem Bilderbuch. Sonnendurchflutete Weiten, der Fluss und die Wiesen glitzerten, das Grün satt und frisch. Links und rechts der Straße leuchteten die Bäume in gelb und rot, ein richtiges Farbspektakel, fast zu schön, um wahr zu sein. Ich hab schon immer Schwierigkeiten, den Herbst kommen zu lassen. Meine Großmutter nahm die Jahreszeiten, wie sie kamen. Das gehört eben dazu. Meine Großmutter wurde 90 Jahre alt.

    Zwischen diesen Hügeln, Wiesen und Wassern spielte sich der Großteil ihres Lebens ab. Hier ging sie mit ihren Freundinnen zum Tanz. Fuhr mit dem Rad, ihrem Mann und ihren Kindern und später auch mit mir in die nächste Stadt zum Eisessen. Kannte die kürzeren Wege durch den Wald. Schaute den anderen beim Baden zu. Mit etwas Abstand, aber lachend.

    Ich erinnere mich an ihre Hände, wie sie früher waren. Schlanke Finger, immer etwas rau. Vielleicht waren das auch Spuren von der Feldarbeit bei ihren Eltern und später bei meinem Großvater. Wenn sie von ihrem ersten Zuhause erzählte, kam es mir vor wie ein Märchen. Ein kleines Haus in einem Ort an einem fremden Fluss. Zwei Brüder. Eine Schwester. Es gab einen zahmen Raben, der sprechen konnte.

    Ihre Stimme klingt mir noch in den Ohren. Die war auch immer etwas rau. Zum Schluss hat sie wenig mit mir gesprochen. Manchmal hat sie einen Scherz gemacht und lächelnd die schmalen Schultern hochgezogen und ihre Augenbrauen auch.

    Auf dem Hof hinter dem Haus hingen am Sonnabend ihre Nachthemden an der Wäschespinne. Helles Rosa. Weiß. Sie waren das Erste, was ich beim Ankommen sah. Mein Onkel hatte sie am Vormittag noch gewaschen und aufgehangen. Damit sie welche hat, wenn sie nach Hause kommt.

    Der Hof ist ein blühendes Paradies. Ihr Sohn (mein Onkel) hat vor ein paar Jahren seinen grünen Daumen entdeckt. Zwischen Blumen in allen Farben und Formen ist meine Großmutter ganz langsam weniger geworden. Weniger aufrecht. Weniger stark. Weniger sie selbst, wie ich sie kannte. Mehr wie ein Kind. Mit großen Augen, mal staunend, mal misstrauisch. Manchmal hat sie große Angst bekommen, wir wissen nicht wovor. Dann hat es geholfen, wenn man sie in die Sonne zwischen die Blumen oder an das Ufer des Sees gesetzt hat. Licht hilft gegen Dunkelheit. Wärme gegen Kälte.

    Meine Mutter, mein Onkel und ich saßen am Sonnabendnachmittag vor der Haustür und blickten in den Hof. Auch wir waren weniger geworden. Die Wäsche hatten wir reingebracht, den Anblick hielt keine:r aus. Die Herbstsonne tauchte alles in warmes Licht. Die dürren Bäume wogten knarrend im Wind. Eine fehlte.

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