15 Jahre später

…sitzen 64 Frauen und Männer in einer mittelgroßen Stadt in einem Restaurant, dessen zwei Servicekräfte ob des anhaltenden Hungers und Durstes der Gäste bald an die Grenzen ihrer Freundlichkeit geraten „Erst das Essen, dann die Getränke, gedulden Sie sich noch einem Moment!“. Ich habe beschlossen, mein erstes Klassentreffen ohne übertriebenen Rausch zu begehen, trinke einen Schluck Weißweinschorle und blicke mich gespannt um.

Links von mir sitzt in Teilen der Freundeskreis meiner Gymnasialzeit, am Tisch neben uns und neben der Bar hat sich ein buntes Durcheinander der ehemaligen Klassen a bis c versammelt. Gelächter und rumoriges Stimmgewirr schallen durch den kleinen Raum. Ich sehe, dass die anderen genauso neugierig ihre Blicke schweifen lassen. Wer ist denn das? Der sieht mit Glatze ja total anders aus…Waren die beiden nicht mal ein Paar? XY hat sich ja überhaupt nicht verändert! War der immer schon so groß oder ist er nochmal gewachsen? War Dingens nicht beim Film gelandet? Wollte sie nicht auch kommen oder hab ich sie nur noch nicht erkannt? Ist sie schwanger oder nicht?

Die entspannte und fröhliche Atmosphäre erstaunt und erleichtert mich. Zu Schulzeiten hat sich das mitunter anders angefühlt. Eine meiner Freundinnen hat Fotos mitgebracht, die bis auf den Kindergarten zurückgehen und von Tisch zu Tisch wandern. Unglaublich, wenn man sich die Knirpse von damals anschaut und mit den Erwachsenen von heute vergleicht. Jetzt haben viele selbst Familie und Kinder, sogar schon im Grundschulalter.

Und ich bin, auch in dieser illustren Runde, jetzt irgendwie die Pfarrerin. „Für eine Pfarrerin siehst du so lässig aus!“ (hier freue ich mich kurz sehr) „Oha, der Klerus kommt an die Bar!“ (und trinkt ganz ungeistlich Cola) „Ich überlege seit einiger Zeit, aus der Kirche auszutreten.“ „Die Pfarrerin aus unserer Gemeinde ist..“ „Der Tod von XY hat mich in eine tiefe Krise gestürzt damals…“ “ Wenn ich mal heirate, frage ich dich“ „Nach der Konfirmation habe ich irgendwie den Draht zur Kirche verloren“ „Bist du eigentlich…Katholisch oder evangelisch? „Du darfst doch aber heiraten, oder?“(ehm, seriously?!)

Nach einem längeren Gesprächsgang mit Tino, der früher mit langen Haaren Gitarre spielte und an diesem Abend mit bunten Ringelsocken, Knickerbockerhosen und Hipsterbrille auf einem Longboard (woher eigentlich?) angerollt kam, schüttele ich verwirrt den Kopf. Er macht irgendwas mit Gütern, Zahlen und Zügen und Computern, noch nie habe ich diese Berufsbezeichnung gehört und sie als Konsequenz auch sofort wieder vergessen. „Eine ganz andere Welt!“ sage ich zu Anna, meiner längsten Schulfreundin, die gerade Wein trinkt. Anna fängt an zu prusten: „DU hast doch den Job aus der anderen Welt!“

Es gibt auch jemanden aus meiner Klasse, der als Kameramann u.a. bei Festivals und Fußballspielen dabei ist. Jan will nun nochmal studieren, Archäologie soll es werden, ausgerechnet in meiner ehemaligem Studierendenstadt. Er erzählt mir, dass er Menschengruppen und größere Versammlungen immer sofort nach Licht und Ton abscanne. Jan. kann gar nicht mehr anders als die Welt mit den Augen eines Kameramannes zu sehen.

Den harten Kern verschlägt es gegen zwei Uhr nachts noch ins Tanzlokal nebenan. „Grauenvoll ist es immer!“ Melanie aus der A-Klasse hat Recht mit ihrer Behauptung. Der Ort, die fremden Menschen, der DJ und seine fiese Musik sind eine echte Anfechtung. Ich bin müde und übervoll an Eindrücken und Gefühlen. Der schlechte Discobeat hämmert mir schmerzhaft aufs Gemüt. Entweder ich bin zu alt für diesen Scheiß, zu sehr Pfarrerin oder mit zu gutem Geschmack gesegnet oder (was wohl am Wahrscheinlichsten ist), ich bin einfach zu nüchtern. Wir brechen bald auf, Anna und ich teilen ein Taxi. Früher sind wir diese Strecke immer mit dem Rad gefahren, nach dem ausgiebigen Tanzen in einem Club, den es heute nicht mehr gibt. Na, das waren noch Zeiten. Ach ja.


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